Brief an Gemeinderäte & OB Palmer

Sehr geehrte Gemeinderatsratmitglieder der AL/Grünen, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Boris,

ich habe mir bisher immer sehr viel Mühe gemacht, bei den Gemeinderatswahlen meine Stimmen so effektiv und potentiell optimal wie möglich zu vergeben und dabei natürlich darauf gesetzt, dass ich mich dann auch auf die Wahrung und Umsetzung bestimmter Essentials verlassen kann in einer grünen Stadt.

Insofern erschien es mir selbstverständlich, dass grünes Denken und Handeln immer auf die Balance zielt zwischen der Erhaltung, Pflege und Verschönerung der bereits vorhandenen grünen Ressourcen und der Transformation bzw. Verwirklichung von neuen Projekten, da ja letztere immer eine Phase der Zerstörung des Alten voraussetzen. Von grüner Politik erwarte ich hierbei ein gewisses Mindestmaß an Achtsamkeit und Behutsamkeit, auch wenn das mehr Geld in der Umsetzung kostet und bedeutet, nicht alle Projekte Schlag auf Schlag zu starten.

Es ist allgemein bekannt, dass die Alterung der Gesellschaft die allgemeine Bedürfnislage verschiebt: Werden jetzt (was auch nicht nur in Bezug auf den Anlagenpark, sondern allüberall in und um Tübingen passiert) IMMER MEHR WUNDERSCHÖNE PRACHTVOLLE ALTE/GROSSE BÄUME gefällt, so ist es für die Generationen 40plus keinerlei Trost und Ersatz, wenn in 60 Jahren dann im besten Fall wieder das jetzt vernichtete Niveau erreicht wird bei Neupflanzungen. Hinzu kommt, dass immer mehr Bäume so zubetoniert werden, dass sie überhaupt nicht mehr wirklich groß werden können, jedenfalls nicht, ohne den Asphalt zu verschieben, ganz zu schweigen davon, dass der Verlust an Erd- und Grünfläche Vögeln wie z. B. Amseln ihren Lebensraum entzieht.

Wenn man dann noch bedenkt, dass für viele der jüngeren Generation Tübingen als Studierendenstadt ohnehin nur ein Durchgangsstadium ist, so stellt sich hier sehr herausfordernd die Frage, wie diese Antizielgruppen-Politik der flächendeckenden Abholzung von Jahrzehnte alten gesunden Bäumen noch zu rechtfertigen ist. Viele ältere Menschen sind gehtechnisch eingeschränkt und können nur noch naheliegende Parks aufsuchen, in denen sie dann brutal zurechtgestutzte Bäume und die Lücken der abgeholzten, ihnen über Jahrzehnte bestens bekannten schönen alten Bäume ausdauernd zu sehen bekommen. Wer danach undepressiv den Park wieder verlässt, hat auf jeden Fall ein sehr hohes Resilienzniveau, das weit über dem Durchschnitt liegt.

In der zweiten Lebenshälfte legen viele Menschen nicht mehr so viel Wert auf Parties und Events, sondern wollen sich lieber feinstofflich mit der wohltuend-harmonischen, friedlichen Naturenergie aufbauen, wie sie eben von langjährig gewachsenen Bäumen und Sträuchern ausgeht. Dass die Naturwissenschaft noch nicht so weit ist, diese Effekte messen zu können, heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Es ist schließlich kein Zufall, dass man weltweit z. B. Qi Gong-Übungen gerne in Parks praktiziert, weil dadurch auch die Naturenergien aufgenommen werden können und so die Übungen noch effektiver sind.

Natürlich braucht es Event- und Partyflächen, die Frage ist aber, wo es am sinnvollsten ist und ob sich dafür rechtfertigen lässt, ökologisch gewachsene wohlfunktionierende Baum- und Strauchareale ratzfatz zu beseitigen. Sicherheitshalber möchte ich hier klimaschutztechnisch auch noch auf die Pressemitteilung der Universität Hamburg vom 17. August 2017 verweisen, in der es darum geht, dass auch (sehr) alte Bäume, sofern in natürlicher Mischform belassen, CO2 effizient abbauen (https://www.uni-hamburg.de/newsroom/presse/2017/pm63/pm-63-17.pdf).

Rein visuell bin ich geneigt, den Informationen der Bürgerinitiative Anlagenpark Tübingen Glauben zu schenken, dass die Zahl der Baumfällungen das städtisch angegebene Maß deutlich übersteigt. Bei zwei Dritteln des Anlagenparks kann von einem Park bereits überhaupt nicht mehr die Rede sein (es sind ja auch sämtliche, vermutlich komplett ungezählte Sträucher vernichtet worden), es gibt da nur noch zwei schmale Wege mit derart reduziertem Baumbestand, dass es eigentlich viel leichter wäre bei diesem Projekt, zu zählen, wie viele alte Bäume übrig bleiben. Hinzu kommt, dass Weiden am See (Verstümmelungsschnitte? Bauarbeiten? Nachhilfe? Depressiver Suizid?) aus der Erde „gefallen“ sind und manche vereinzelt-verloren im Bauland dahinvegetierenden Restbäume ohne sommerliches Zusatzgießen womöglich nicht mal mehr die Umbauphase überstehen. Nun soll ja im Juli bzgl. der Bauphase III noch entschieden werden und wenn ich das recht sehe, würden hier noch die letzten Bäume auf dieser Seite am Seeufer gefällt werden? Dann wäre da gar nichts mehr und nur auf der Seite zur Uhlandstraße wären überhaupt noch Bäume. Was für mich den unmittelbaren Ausschlag für diesen Offenen Brief gegeben hat, sind die roten Holzstäbchen, die erahnen lassen, dass selbst der kurze und bereits ohnehin breite Weg zwischen der aktuellen Ampel beim ZOB/Tiefgaragenbauplatz und der Uhlandstraße noch verbreitert werden soll, was dann den Holzpflöckchen folgend mindestens 2 weitere Baumopfer kosten wird. Bereits jetzt drängen sich in diesem kleinen Areal vom Seeufer bis zur AOK Vögel verschiedenster Art, wie ich es zuvor nie gesehen habe. Es hilft der Vogelwelt halt leider nichts, irgendwann später nachzupflanzen, wie sollen die bereits jetzt unter der akuten Verkleinerung ihres Lebensraums leidenden real existierenden Vögel diese lange und immer noch zunehmende Zerstörungsphase überleben?

Unseren Kindern bringen wir in Bilder- und Kinderbüchern bzw. -filmen Empathie auch für alle Tiere bei, doch sobald sie an der Schwelle zum Erwachsenenleben stehen, sollen sie ihr Einfühlungsvermögen dann „conveniently“ zweckrationalistisch abmindern und z. B. auf Haustiere begrenzen. Wildtiere werden dann nur noch statistisch wahrgenommen unter dem Artenschutzaspekt. Um häufiger vorkommende Tierarten braucht man sich nicht weiter zu kümmern, ihnen kann man offenbar problemlos die Lebensgrundlagen entziehen. Doch auch jetzt noch häufig anzutreffende Vogelarten können in ganzen Regionen verschwinden, 2018 kursierte vielerorts ein massives Amselsterben, letztes Jahr zu Beginn der Corona-Pandemie gab es in mehreren Regionen ein Blaumeisensterben. Das heißt also, wenn wir unsere jetzt noch einigermaßen häufig vorkommenden Vogelarten durch intakte Ökosysteme nicht effektiv schützen, kann es morgen schon zu spät sein. So kann es nicht mehr weitergehen. Grüne Politik war in ihren Anfängen eine Politik mit Herz UND Verstand, jetzt ist sie großenteils zu einer reinen TECHNOKRATENPOLITIK verkommen. Wenn für Fahrrad-Highways genauso fraglos Bäume geopfert werden wie für traditionelle Autobahnen, wenn immer nur auf Kosten der Lebensqualität im Hier und Jetzt in die Zukunft investiert wird, dann gibt es keine Balance mehr und dann werden wir auch schlichtweg nicht erfolgreich sein beim Aufbau einer besseren Welt, die die Klimakatastrophe verhindert. DER WEG IST DAS ZIEL. Respekt und Wertschätzung der natürlichen Schätze, die wir haben, müssen im Einklang stehen mit guten Ideen, was sich neu verwirklichen lässt. Wenn schon Projektehrgeiz, dann doch bitte auch im Vorgehen, in einer Behutsamkeit der Transformation, was gerade in Tübingen, dieser Stadt mit einer langen alternativen und grünen Tradition meines Erachtens eine Selbstverständlichkeit sein sollte, leider aber längst nicht mehr ist. In der Anfangsphase der Grünen gab es noch diese Einheit, da war auch noch die Rede von der wissenschaftlichen Gaia-Hypothese und von indianischen Stammeskulturen und ihrer erfolgreich praktizierten Achtung von Mutter Erde.

Jetzt hingegen wird z. B. Boris Palmer in den Stuttgarter Nachrichten vom 22.07.2020 folgendermaßen zitiert:

>„Es gibt sachlich keinen Grund, den Bäumen nachzutrauern“, die wenigsten von ihnen seien stattlich gewesen und sie wären einem 40-Millionen-Euro-Projekt im Weg gestanden.< – Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, lieber Boris, so denken kann man wahrscheinlich nur, wenn man pfeilschnell die Fahrradautobahn benutzt und Bäume nur als Wegschatten wahrnimmt. Ich persönlich habe hier sehr viele schöne und sehr schöne Bäume und Sträucher gekannt und kann Dir nur den Film „Pachamama und die Söhne der Sonne“ empfehlen, da kannst Du Dir gleich am Anfang ansehen, wie bzw. mit welcher Achtung ein ecuadorianischer Schamane mit Bäumen kommuniziert, da kann man am Modell lernen, alternativ gehen natürlich zur Einführung auch die Touché-Cartoons in der taz mit der Baumumarmerin. Auch im Qi Gong gibt es eine Übung „Den Baum umarmen“, die ich nur empfehlen kann, holistisches Leben macht einfach glücklicher und vielleicht sollte die Stadt da dem Vorbild Bhutans folgen, das ein Glücksministerium hat und entsprechend ein Glücks-Amt auf lokaler Ebene einrichten, zweifellos würde dies Projektplanungen aller Art gut tun und Tübingen an die vorderste avantgardistische Fortschrittslinie bringen – auch so kann man sich einen Namen machen (siehe z. B. https://www.stern.de/neon/wilde-welt/gesellschaft/gluecksminister-dr–ha-vinh-tho–darum-sind-so-viele-deutsche-ungluecklich-7894280.html).

Als Fazit leite ich folgende drei konkrete Forderungen aus dem im Vorfeld Angeführten ab:

– Die Veranstaltung einer Online-„Baumkonferenz“ vorab der Juli-Gemeinderatssitzung und zwar mit öffentlichem Zugang, bei der im direkten Gespräch zwischen der BI Anlagenpark, Pro Arbore und der städtischen Projektleitung auch anhand von Fotos und Arealplänen einzeln durchgegangen wird, wie viele Bäume nun tatsächlich gefällt wurden (nicht umsonst gab es ja Baumzählungen bzw. -markierungen). Sollte sich herausstellen, dass es tatsächlich mehr als die bislang immer nur kolportierten 98 sind, muss das Projekt wieder auf den Prüfstand, dann läge hier (ob beabsichtigt oder nicht) nämlich eine fahrlässige Täuschung der Bürger/innen Tübingens vor, die das Projekt bislang (wenn überhaupt) deshalb akzeptiert hatten, weil es hieß, die baumfreundlichste Variante sei gewählt worden mit klarer Begrenzung der Baumfällungen. Es wäre dabei ebenso zu prüfen, inwieweit die Bauleitung über die Begrenzung der Fällungen, auch der Sträucher, überhaupt tagesaktuell informiert war/ist.

– die städtische Einrichtung von Vogelfutterstationen, auch bodennah für die real existierenden Vögel, die diese lange Umbauphase rund um die Uhr überstehen müssen.

– die Überprüfung, an welchen Stellen ein Vorziehen von Neupflanzungen möglich ist, dies müsste doch zumindest an ausgewählten Stellen möglich sein.

Mit Dank für Ihrer aller Aufmerksamkeit und in der Hoffnung, sowohl Ihren Kopf als auch Ihr Herz erreicht zu haben bin ich mit tiefenökologisch-freundlichen Grüßen

Ida Tschichoflos

TÜ-Hirschau

2 Kommentare

  1. Bitte Herr Palmer, sämtliche Bürger leiden über das rausreisen der Bäume an unserem Biotop, die Tiere schwäne…….. werden weggeschickt, das tut alles sehr weh, sie sind doch grün,bitte können sie es stoppen

  2. Danke für diesen guten Beitrag, der mir aus der Seele spricht. Wo will man jetzt noch hingehen mit der gehbehinderten 85-jährigen Mutter, die nur noch kleine Runden mit dem Rollator drehen kann. In ihren geliebten Park will sie nicht mehr. Das macht traurig. In Erinnerung bleiben ihr sehr wohl die alten schönen Kastanien und zahlreiche weitere wundervollen Bäume. Warum wurde das alles zerstört? Die Radbrücke West soll nun doch nicht gebaut werden? Ja wie wunderbar. Nur- warum hat man dann dort alles abgeholzt? Jetzt auch am Wildermuthgymnasium, Grossbaustelle und Zerstörung. Selbiges an der vorderen Uhlandstrasse. Dort wird die schöne grosse Wiese platt gemacht. Eigentlich erinnert nur noch das Nordufer am Anlagensee an einen schönen Park. Was wird noch alles zerstört in dieser Stad? Und im Tagblatt heißt es protzig auf dem Titelblatt des Tübinger Teils: „Die Stadt den Menschen“. Tübingen gewinnt den Städtebausonderpreis. Der Artikel von Andreas Straub endet mit einem Zitat vom früheren Münchener Oberbürgermeister und Präsident des Städtetags Christian Ude: „Städte müssen künftig mehr grün bieten“. Jawoll ja- das sieht man ganz deutlich überall in der Stadt. Angefangen beim neuen Güterbahnhofareal, auf WHO, in Entringen, beim Strassenausbau im Neckartal, am Europaplatz und im einstigen Anlagenpark usw. Irgendwie erscheinen einem solche „schönen“ Zeilen im Schwäbischen Tagblatt wie Rechtfertigungen für tägliche Zerstörungswut. Naja, die Jugendlichen haben ja jetzt ihr neues Areal unter der Schlossbergtunnelbrücke zum Austoben bekommen. Geschrei und lautes Schlagen der Bretter von früh bis spät auch gleich gratis für alle Anlieger. Auch kein schöner Ort mehr zum Verweilen für meine Mutter. Zu den Sportstätten am Ortsrand zu radeln ist für Kinder nicht mehr zumutbar. Mit dem Mercedes täglich vor die Schultüre fahren, das ist angesagt. Wenn denn mal wieder Schule stattfindet……. und ach ja… die Schrebergärten an den Bahngleisen mussten unter Androhungen zeitnah geräumt werden um einer ICE- Waschanlage Platz zu machen. Nur wo ist diese????? Naja, zumindest die blieb uns erspart, aber die zahlreichen schön gehegten und gepflegten Gärten mussten weg. Auch da flossen viele Tränen. Die Stadt den Menschen…. ja ja….wers denn glaubt wird selig….. und wo soll ich nun mit meiner Mutter hin zum Spazieren gehen????? Sie dreht eisern ihre Runden mit dem Rollator in der Wohnung. Ein wirklich traurig machender
    Anblick…. Danke Cord Soehlke, danke Frau Cord, danke Herr Palmer, danke Stadtwerke Tübingen und mein besonders herzlicher Dank gilt den Mitgliedern des Tübinger Gemeinderats, die all diesen Wahnsinn und diese Zerstörungswut mit ihrer Stimme unterstützen. Es ist unfassbar.

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